Rehkitzretten vielleicht doch nicht ganz so sinnvoll
KOMMENTAR – Drohnen sind die neueste Methode zum Rehkitzretten. Sinnvoll? Zu viele Rehe gefährden den Waldbau erheblich.
Rottenburg am Neckar, 30. Mai 2024. Rehkitzretten ist gerade wieder ein großes Thema. Zuletzt im Reutlinger General-Anzeiger (GEA) am 7. Mai. Das liegt an der Jahreszeit. Die Ricken (Rehmütter) haben geworfen und verstecken das Junge im Gras, das gerade recht hoch ist.
Dann kommt die Mähmaschine und das Unglück nimmt seinen Lauf. Viele rührt das zu Tränen: „Bambi ist ja sooo süß…“
Die Frage ist aber, ob Rehkitzretten im Großen und Ganzen und ökologisch ganzheitlich betrachtet, sinnvoll ist. Gibt es für diese Sentimentalität einen Anlass, oder ist sie schädlich? Das klingt herzlos – doch das Reh ist keine gefährdete Art. Und wird es auch nie werden, solange es Jäger gibt.
Und: Es gibt ohnehin zu viele Rehe.
Das sagt so ziemlich jeder, der einen Wald besitzt oder der für den Waldumbau zuständig ist. Waldumbau! Das ist das große Thema! Waldumbau heißt, kurz erklärt, die Fichten, die jetzt in fast jedem Wald in der Mehrzahl sind, durch andere Baumarten zu ersetzen.
Denn die Fichten stehen wegen der Klimakrise gerade sehr unter Stress: die Klimakrise verursacht Trockenheit und Trockenheit macht sie anfälliger für den Borkenkäferbefall. Der Borkenkäfer profitiert hingegen von der Wärme und zieht jetzt im Sommer nicht nur eine, sondern zwei, vielerorts sogar schon drei Generationen heran. Fichten sterben daher massenweise ab.
Forstleute machen sich nun Gedanken, wodurch sie die Nadelbäume möglichst schnell ersetzen könnten. Durch Laubbäume, das ist klar, noch nicht ganz klar ist, durch welche Arten genau.
Und jetzt kommt das Reh. Junge Laubbäume gehören zur bevorzugten Nahrung des sogenannten Schalenwilds. Wenn dann der Wildbestand zu hoch ist, haben die Waldbesitzer Schwierigkeiten, den Laubbaumnachwuchs groß zu bekommen. Schutzmaßnahmen wie Zäune sind aufwendig und teuer.
So gesehen ist das Reh, wenn man so will, ein „Schädling“. Wie der Kartoffelkäfer oder der Borkenkäfer, nur sind die eben nicht so „süß“.
„Wald vor Wild“, lautet die Devise. Angesichts der Klimakrise, die dem Wald zusetzt, ist sie aktueller denn je.
Eine interessante Frage ist auch, warum sich wieder ausgerechnet Naturschützer um die Rehkitzrettung kümmern müssen.
Noch interessanter: Das Bundeslandwirtschaftsministerium gibt Zuschüsse für Drohnen mit Wärmebildkameras zum Rehkitzretten. Allein für 236 Anträge aus Baden-Württemberg hat der Landwirtschaftsminister, der auch „Forstminister“ ist, mehr als eine Million Euro bewilligt, während er bei mit Zuschüssen für den Waldumbau knauserig ist. Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar! Hier zahlt wieder die Allgemeinheit für Schäden, die private Betriebe anrichten. Man kennt das ähnlich aus den Bankenkrise: Gewinne wurden privatisiert, Verluste sozialisiert.
Sinnvoll wäre, dass die Unternehmen, die diese Monstermähmaschinen herstellen, dafür sorgen, dass möglichst kein Tier zu Schaden kommt. Technische Lösungen wären gefragt: „Wir setzen unsere Hoffnung auf Ingenieurinnen und Ingenieure“, wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz bei seiner jüngsten Wahl (in Bezug auf die Klimakrise) sagte.
Schwer zu sagen, wie viele Rehkitze dem Tod entgehen, weil sie jemand mit Hilfe von Drohnen rettet. Wer unbedingt Rehe retten will, ist aber auf der Straße besser aufgehoben. Denn die Zahl der Rehe, die auf den Straßen ihr Leben lassen ist gut dokumentiert. Laut Deutschem Jagdverband sind das 200.000. Wobei Wildunfälle außerdem Menschenleben kosten können, und große Sachschäden verursachen. Von 30.000 Wildschweinen, ungezählten Hasen, Igeln, Mardern und Vögeln, die auf dem Asphalt verenden, ganz zu schweigen.
Das Rehkitzretten ist wieder ein Beispiel dafür, dass wir Augen für „süße Symbole“ haben, aber nicht für das Wesentliche. Das Wesentliche ist das ökologische Desaster, das sich hinter der Sache verbirgt. Rehe retten ist kein Artenschutz. Das Mähen – genauer, das zu frühe Mähen, wäre viel wichtiger für den Artenschutz. Wiesen sind Ökosysteme, die sich entwickeln müssen. Nicht das Messer ist das Problem, sondern die Graswirtschaft und die Artenarmut bei den Wiesenpflanzen, Wiesenpflanzen die nicht blühen dürfen und so als Nahrungsgrundlage für Vögel und Insekten ausfallen.
Wenn die Mähmaschine schon Ende April anrollt, haben Bodenbrüter kaum eine Chance. Kommt das Mähmonster Ende Juni (das ist die Zeit der Heuernte), sind die Vögel flügge und selbst Bambi ist auf und davon.
Ein „neutraler“ Bericht aus der „neutralen“ Schweiz zum Thema Wildverbiss und Waldumbau steht hier.
Alle KOMMENTARE von Waldfreund.in.
Der gesamte GEA-Beitrag ist nur für angemeldete Nutzer lesbar.
Foto: © johnnyb / pixelio.de