Steigt die Waldgrenze mit dem Klimawandel?
Das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF untersucht am Stillberg bei Davos, ob sich Fichten- und Lärchenkeimlinge oberhalb der aktuellen Waldgrenze etablieren können.
„Klimawandel macht aus Pflanzen Gipfelstürmer“, „Das Alpenschneehuhn erklimmt neue Höhen“ – Schlagzeilen wie diese häufen sich in den Medien. Sie machen deutlich, dass zahlreiche Pflanzen oder Vögel infolge der steigenden Temperaturen heute in höheren Lagen vorkommen als noch vor einigen Jahrzehnten. Im Rahmen des internationalen G-TREE-Experiments untersuchen Forschende weltweit, ob sich auch die Waldgrenze mit dem Klimawandel verschiebt.
Eine dieser Wissenschafterinnen ist Esther Frei, Mitarbeiterin des Forschungszentrums CERC, das Teil des SLF ist. Sie sagt: „Waldgrenzen gehören weltweit zu den wichtigsten und auffälligsten Übergängen zwischen Vegetationstypen. Verändern sich diese Grenzen, kann dies zum Beispiel auch die Schutzwirkung der Wälder oder die Lebensräume für Tier- und Pflanzenarten beeinflussen.“
Stillberg als bewährtes Freiluftlabor
Die Waldgrenze steigt bei uns bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts an; vor allem weil der Bergwald früher zugunsten der Landwirtschaft zurückgedrängt wurde, sich aber infolge der abnehmenden Nutzung der Alpen seinen Lebensraum inzwischen zurückerobert. Die Forschenden möchten nun wissen, ob Bäume heute noch weiter oben als einst Fuß fassen können.
Als Untersuchungsgebiet dient in Davos der Stillberg im Dischmatal, wo das SLF schon seit Jahrzehnten erfolgreich erforscht, wie Bäume an der Waldgrenze auf unterschiedliche Umwelteinflüsse reagieren. Frei legte dort 2013 auf der Höhe der aktuellen Waldgrenze (2100 m ü. M.) sowie auf 1930 m ü. M. und 2410 m ü. M. je zwanzig Versuchsflächen an. Die Flächen setzte sie unterschiedlichen Behandlungen aus. So entfernte sie zum Beispiel auf einem Teil der Flächen die natürliche Vegetation, auf einem anderen Teil säte sie eine definierte Anzahl von Fichten- oder Lärchensamen. Seither beobachtet sie jedes Jahr, auf welchen Flächen Baumsamen keimen und wie sich die Keimlinge entwickeln.
Keimung oberhalb Waldgrenze möglich
Die Aufnahmen der ersten Jahre zeigen, dass Baumsamen auch deutlich oberhalb der aktuellen Waldgrenze keimen können. Zu Beginn sprossen am höchstgelegenen Standort sogar am meisten Baumkeimlinge, allerdings nur, wenn auf den entsprechenden Versuchsparzellen zuvor Samen ausgebracht wurden. Grundsätzlich keimten sowohl Fichten als auch Lärchen besser, wenn ihnen keine anderen Pflanzen den Platz streitig machten. Schon nach zwei Jahren war jedoch der Anteil der überlebenden Keimlinge oberhalb der Waldgrenze deutlich kleiner als weiter unten, was darauf hindeutet, dass die harschen Winter den Keimlingen stark zusetzten.
Diese Resultate decken sich mit denjenigen der anderen G-TREE-Standorte in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland. Doch was bedeutet dies nun für die zukünftige Waldgrenze? Frei: „Zunächst müssen Baumsamen höher gelegene Standorte überhaupt erreichen und dort ohne Konkurrenz keimen können. Die Waldgrenze wird aber nur dort steigen, wo Standort und Bewirtschaftung zulassen, dass die Keimlinge zu Bäumen heranwachsen.“ Nach nunmehr acht Jahren haben sich auf 2410 m ü. M, also rund 300 Meter oberhalb der aktuellen Waldgrenze, noch immer einige Keimlinge gehalten. Erstaunlicherweise wachsen sie sogar schneller als diejenigen weiter unten. Die nächsten Versuchsjahre werden zeigen, ob die Pflänzchen auch längerfristig bestehen, und so – zusammen mit anderen Studien am Stillberg – dazu beitragen, das Überleben von Bäumen an der Waldgrenze noch besser zu verstehen.
Der Artikel von Christine Huovinen erschien bereits im Mai 2022 im Newsroom der WSL. Außerdem in leicht gekürzter Form am 31. Mai 2022 in der Davoser Zeitung.
Das WSL bei Waldfreund.in.
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Foto: Esther Frei vermisst einen Lärchenkeimling / © Claudia Hoffmann/SLF