Wir Waldbesitzenden
BUCHTIPP – Josef H. Reichholf zeigt uns eine interessante Sichtweise auf das, was wir „Wald“ nennen. Einiges an Grundwissen und ein paar Geheimnisse kommen hinzu.
In Deutschland gibt es derzeit rund 83 Millionen Leute, die Wald besitzen – nämlich wir alle. Wir sind die Waldbesitzenden.
Das ist die Sicht des Zoologen, Evolutionsbiologen und Ökologen Josef H. Reichholf. Diese Sichtweise mag für viele etwas überraschend kommen. Deswegen sei hier Reichholfs neues Buch* „Waldnatur“ empfohlen, in dem er uns Plötzlich-neu-Waldbesitzenden erste Grundkenntnisse über das Ökosystem „Wald“ verschafft, wenngleich wir es nicht als zuallererst als „Ökosystem“, sondern als wohltuende Umgebung für Spaziergänge, Wanderungen und Radtouren sehen.
Der Autor mit bisweilen provokanten Thesen (so steht es im Wikipedia-Eintrag) nennt uns „Doch-auch-Waldbesitzer“ aus dem einfachen Grund: Ein Drittel des Waldes in Deutschland ist Staatswald, er gehört folglich allen Bürgerinnen und Bürgern – und nicht etwa den Forstbehörden, wie er süffisant anmerkt. Aber wir wissen: Eigentum verpflichtet. Deswegen fordert er von uns „engagierte Empathie“, um Wälder und ihre Lebensvielfalt in Zukunft zu erhalten. Mischen wir uns also mal ein.
In Deutschland gibt es derzeit knapp elf Millionen Hektar mit Bäumen bestockte Fläche. Wald? Nein, sagt Josef H. Reichholf. Forst! Den Unterschied macht er daran fest, ob der Mensch seine Hand im Spiel gehabt hat. Also praktisch überall, zumindest in Mitteleuropa. Wald gibt es kaum noch, schon gar nicht „Urwald“ oder „Primärwald“, wie es Fachleute nennen. Alles „Forst“ hier, gepflanzt, mit dem Ziel, Erträge zu erwirtschaften, daher „Forstwirtschaft“, die Reichholf nahe bei der Landwirtschaft sieht, inklusive Maschinen- und Pestizideinsatz. Nur die „Umtriebszeit“ mache den Unterschied, im Forst meist mehr als 100 Jahre.
Folgerichtig müsste man dann so manches umbenennen:
Aus Waldbesitzenden würden Forstbesitzende usw.:
Waldweg / Forstweg
Waldbeeren / Forstbeeren
Waldfreund.in / Forstfreund.in
Waldbaden / Forstbaden
Waldfriedhof / Forstfriedhof
Waldschrat / Forstschrat
Und im alten Volkslied „Nun will der Lenz uns grüßen“ müsste es in Strophe zwo heißen „Forstvöglein Lieder singen“.
Nun hat uns Reichholf also gerade erst zu Waldbesitzenden erklärt und schon verdirbt er uns den Spaß wieder? Nein, so ist das nicht. Grundsätzlich will uns der Autor durchaus vermitteln, wie schön Wälder sind, die wir jetzt aus alter Gewohnheit fortan so nennen.
Des Autors Lieblingswald ist der Auwald, in dessen Nähe er aufgewachsen ist. Auwälder zeichnen sich unter anderem durch ihre Nähe zum Wasser aus (siehe Waldfreund.in #1: „Wald und Wasser“). Und so schön kann es da sein, besonders im Frühling: „Da erliege ich jedes Jahr wieder der Faszination von Kuckucksruf, Grasmückengesang, Rotkehlchentriller und den Blütensternchen der Buschwindröschen, Gelben Windröschen, Blausterne und anderer Frühlingsblumen…“
Da hatte er ja Glück, der Autor. Was er nicht schreibt, ist, dass selbst der „Forst“ seinen Reiz haben kann und dass wir sogar dort einen „Lieblingsplatz“ finden können. Nicht jeder „Forst“ wirkt auf den ersten Blick wie vom Menschen gepflanzt. Sogar die vielgeschmähten Fichtenforste haben einen gewissen Reiz, selbst wenn es da hinsichtlich Biodiversität eher mau aussieht.
Aber man riecht es auch unter Fichten: Wald. Per Definition müssen so viele Bäume beieinander stehen, dass ein „Innenklima“ entsteht: im Sommer etwas kühler, im Winter nicht so kalt, weniger Wind. Und dann eben der Duft…
Wichtig ist es, Wald zu verstehen. Und Reichholf als Honorarprofessor kann es uns erklären. Sein Buch „Waldnatur“ hat er in vier Teile gegliedert:
Vom großen Ganzen
Detaillierte Einblicke
Erlebnisraum Wald
Forst, der gepflanzte Wald
Hinzu kommen grau unterlegte kurze Erklärstücke, zum Beispiel zu Totholz, Wildschweinen, Wald im Klimawandel oder zum Thema Aufforsten (siehe Waldfreund.in #1: „Deutschland forstet auf“).
An einigen Stellen geht der Autor sehr ins Detail. Nach der Lektüre weiß die Leserin oder der Leser mehr über den Fichtenkreuzschnabel (Loxia curvirostra, einschließlich des wissenschaftlichen Namens) als über den eigenen Wellensittich (Melopsittacus undulatus). Sie lernen schöne neue Wörter wie Mutualität, Mykorrhiza oder Saisondimorphismus.
Dabei ist ein genauer Blick auf das Leben des Fichtenkreuzschnabels ziemlich spannend. Der Vogel brütet im Winter, „wenn noch Schnee liegt und Frost herrscht“. Zu der Zeit sind aber die Fichtensamen reif. „Mit einem Brei aus Fichtensamen können die Kreuzschnäbel ihre kleinen Jungen ähnlich gut füttern wie kleine Säugetiere mit Muttermilch.“
Trotzdem findet selbst ein Professor Josef H. Reichholf nicht so einfach einen Weg aus dem Dickicht von Natur- und Wirtschaftswald. Hier steht auf der einen Seite der weitgehend naturnahe Wald, in dem die ökologischen Funktionen einschließlich der des Ruheraums für gestresste Menschen wichtiger sind, auf der anderen Seite der Wirtschaftswald, der den Besitzenden Ertrag bringt.
Das letzte Kapitel in Josef H. Reicholfs Buch ist überschrieben mit „Die Zukunft unserer Wälder“. Dem Autor schwebt eine Zukunftsvision vor, die ungefähr so aussehen könnte: Der Staatswald soll eher den ökologischen Funktionen dienen, der Privatwald eher den wirtschaftlichen Interessen. Auf jeden Fall tragen wir Waldbesitzenden eine Mitverantwortung.
So ist das und es ist nicht leicht. Wie immer.
Immerhin hilft uns das Buch „Waldnatur“, das Ganze zu verstehen.
* Josef H. Reichholf, Waldnatur, Oekom Verlag, München, 2022
Hier geht’s zur entsprechenden Seite des Verlages:
https://www.oekom.de/buch/waldnatur-9783962383497
Tatsächlich gibt es in Deutschland rund zwei MillionenWaldbesitzende,
deren Namen auch in den Grundbüchern stehen:
https://www.waldeigentuemer.de/themen/private-waldbesitzer/
Der Oekom-Verlag hat uns für diese Rezension ein Exemplar des Buchs kostenlos zur Verfügung gestellt.