
Die Natur machen lassen
BUCHTIPP – Die Natur machen lassen und den Nutzen des Waldes für das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen: Das ist radikaler als es auf den ersten Blick scheint. Ansichten des visionären Försters Georg Meister.
Rottenburg am Neckar, 2. Oktober 2025. Das Weidenröschen kommt von alleine. Immer. Wenn man es lässt. Wenn es die Forstleute lassen. Das schreibt der Forstwissenschaftler Georg Meister (1929-2022) in seinem Buch „Rettet unsere Wälder“, das der Sohn Andreas Georg Meister 2023 herausgegeben hat.
Das Weidenröschen (wissenschaftl.: Epilobium augustifolium) spielt demnach die große Rolle bei der Rettung unserer Wälder. Es besiedelt Kahlflächen massenhaft, die wegen der Klimakrise immer häufiger anfallen, ist Nahrung für unzählige Insekten, bildet Humus, hält den Boden fest und bereitet so die Kinderstube für eine Reihe von Baumarten. „Naturverjüngung“ nennt das die Forstwirtschaft.
Meister ist da ziemlich vehement. Solche von der Natur begründeten Wälder hält er für die einzig sinnvollen. Den Försterinnen und Förstern rät er: nichts tun. Bäume kämen von alleine. Der Wind bringt die Samen, eventuell hilft der Eichelhäher, alles gratis. Also nichts mehr mit „aufforsten“. Keine Fichten und schon gar keine „fremde“ Baumarten mehr.
Damit stellt sich der Forstwissenschaftler wahrscheinlich gegen das Gros seiner Kollegen. Und gegen die „offizielle“ Forstpolitik. Die fordert nämlich Millionen für das Aufforsten und den Umbau der Forsten zu „klimaresilienten Mischwäldern“. Das meint auch Meister, nur müsse man die Natur machen lassen.
Es gibt noch andere Themen dieses Forstexperten, bei denen er nur wenig andere Auffassungen neben seiner eigenen zulässt. Er setzt die Gemeinwohlfunktionen des Waldes an oberste Stelle: Luft, Wasser, Artenvielfalt, Schutz vor Lawinen, Erholung etc.
Holzwirtschaft? Ja, aber aus gesunden Wäldern nach dem Dauerwaldprinzip.
Jagd? Nein. Kein aber.
Die Jagd ist für Georg Meister eine der wichtigsten Ursachen für den Niedergang der Wälder. „Die Erfahrungen der letzten 140 Jahre zeigen, dass der immer wieder geforderte Umbau naturwidriger Nadelbaum-Monokulturen in naturnahe Mischwälder am selektiven Verbiss des Rehwilds gescheitert ist“. Im Gebirge sind es Hirsche und Gämsen, die den jungen Bergwald fressen und damit eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Dafür hat er den einprägsamen Begriff „Waldsterben von unten“ geprägt.
Um nicht missverstanden zu werden: Meister ist selbst Jäger. Ein guter Jäger und Mitgründer des Ökologischen Jagdverbandes. Was er dagegen ablehnt ist die „Trophäenjagd“. Der Hirsch mit dem starken Geweih steht jedoch an der Spitze einer Pyramide, die nach unten extrem breit wird, sprich einen extrem hohen Wildbestand erfordert. Zuviel Wild, das dem Wald schadet. Das ist dem Forstmann so wichtig, dass er es den Leser auf gefühlt jeder Seite wissen lässt.
Dessen Sohn Andreas schreibt im Vorwort, wir müssten „unsere“ Jagdstrategie nachhaltig ändern. Bei diesem „unseren“ müsste man kurz mal einhaken: Ja, es sind „unsere“ Wälder (zumindest die Staats- und Gemeindewälder), aber es ist nicht „unsere“ Jagdstrategie. Jagd war während der gesamten Zeitläufte fast immer die Sache der Eliten. Vor allem des sogenannten Adels. „Adel“ hat über Jahrhunderte auch den Wald geplündert und die Felder der Bauern gleich dazu. „Adel“ hat die Menschen zur „Waldfron“ gezwungen, „Adel“ hat die Menschen als Leibeigene wie Sklaven gehalten. Besonders Woke fragen heute, wann die Kolonisten (auch eine Sache der Eliten) Schadensersatz an die Kolonisierten zahlen? Darf man fragen, wann eigentlich der sogenannte Adel dem Volk Schadensersatz für die Leibeigenschaft und die kahlgefressenen Wälder bezahlt?
Wälder waren über Jahrhunderte vornehmlich Bühne für das Freizeitvergnügen der Mächtigen. Wollte die Allgemeinheit daran teilhaben, musste sie wegen „Waldfrevels“ Kriminalisierung fürchten oder sich als „Bergpöbel“ beschimpfen lassen, wenn sie in den Revieren der „hohen Herren“ wandern oder Bergsteigen wollte. Nicht zu vergessen, dass der „Bergpöbel“ dem „Adel“ die Schlösser und Burgen finanziert und gebaut hat.
Eigentlich müsste die Konsequenz sein, die private Jagd ganz abzuschaffen und durch ein „Bestandsmanagement“ zu ersetzen. Dieses sollten die Försterinnen und Förster alleine ausüben. Das Reh wird schon nicht aussterben, das ist ja immer das Totschlagargument der Jäger. Komisch, das Aussterben anderer Arten in ihren durch Jagd verwüsteten Wäldern nehmen sie hin.
Eine weitere ziemlich radikale Forderung Meisters: die Auflösung der gewinnorientierten Landesforsten. Wald sei nicht dazu da, Finanzgewinne zu generieren, sondern der Allgemeinheit eine Reihe von Gemeinwohlleistungen zur Verfügung zu stellen. Aber: Das an der Natur orientierte Waldbaukonzept („Dauerwald“, weitgehend identisch mit den Ideen der Arbeitsgemeinschaft Naturgemäße Waldwirtschaft, Holz als Frucht des Waldes etc.), auf das Meister und viele andere setzen, bringt durchaus wertvolles Holz hervor. Damit hat Meister noch heute viele Freunde, die den Wald als „selbstgesteuertes Ökosystem“ sehen, „das nicht am Tropf des wirtschaftenden Menschen hängen soll, sondern sich eigenständig entwickeln und an die äußeren Verhältnisse anpassen darf“.
MEISTER, Georg: Rettet unsere Wälder, Westend Verlag GmbH,
Neu-Isenburg, 2023, 239 Seiten, 36 Euro